Weihnachtsausgabe 2002
Dokumentation: Mobbing – die unsichtbare Wand
Über den alltäglichen und immer härteren Kampf am Arbeitsplatz
Von Florian Brinkmann , Judith Jaciby und Steve Preißel
Wir befinden uns an Ihrem Arbeitsplatz. Vorausgesetzt Sie haben einen. Ein Büro mit Computer und Schreibtisch vielleicht. Oder eine Werkshalle mit großen Maschinen. Nehmen wir an, Sie wollen Ihre Arbeit gut machen, handeln gewissenhaft und im Sinne der Firma. Vielleicht sind Sie sogar neu dazugekommen oder unerwartet eine kleine Sprosse auf der Karriereleiter hochgeklettert. Und trotzdem spüren Sie immer wieder diese kalten Blicke im Nacken.
Unter Teamarbeit verstehen Ihre Kollegen mehr oder weniger heimliches Tuscheln – mit dem unangenehmen Unterschied, dass nicht mit Ihnen, sondern über Sie gelästert wird. Es ist ganz zufällig immer jemand zur Stelle, wenn ausgerechnet bei Ihnen das Haar in der Suppe gefunden werden kann. Vorgesetzte übertragen Ihnen plötzlich immer weniger Verantwortung, stattdessen stapelt sich auf Ihrem Schreibtisch langweilige Handlanger-Arbeit. Kollegen fangen jedes Mal erst wieder an zu sprechen, wenn Sie den Raum verlassen haben. Ihr Chef spricht überhaupt nicht mit Ihnen. Und wenn wir mal ehrlich sind, Sie haben inzwischen schon ein ungutes Gefühl, wenn Sie morgens aus dem Haus gehen. Können nachts nicht mehr richtig schlafen, weil Sie spüren, dass irgendetwas gewaltig schief läuft.
Sind sogar vielleicht schon ein bisschen krank davon.
Was ist mit Ihnen los?
Sind Sie ein so genanntes Mobbing-Opfer?
So traurig es auch klingt, deutschlandweit gesehen sind sie nicht allein. Aufgrund der aktuellen Arbeitsmarktsituation und der angespannten Atmosphäre in vielen Betrieben kommen immer mehr Betroffene dazu.
„Steht etwas von Stellenabbau in den Zeitungen, klingeln bei uns die Telefone“, sagt Lothar Drat (48), Geschäftsführer vom Verein gegen psychosozialen Stress und Mobbing e.V. (VPSM) in Wiesbaden. Die auf Arbeitsrecht spezialisierte Rechtsanwältin Andrea Lambrich sieht die aktuelle Lage angesichts ihrer Mandanten ähnlich: „Die Tendenz zum Mobbing scheint zu steigen“. Ingo Degner, zweiter Vorsitzender des Koblenzer Arbeitskreises gegen Mobbing sieht die Ursachen des Mobbings auch im immer stärkeren Leistungsdruck in der Arbeitswelt: „Man muss sich immer mehr durchsetzen“. Auch auf Kosten Anderer. Experten sind sich nicht ganz einig über die Menge der gemobbten Arbeitnehmer in Deutschland, man schwankt zwischen einem bis siebzehn Prozent der berufstätigen Bevölkerung. Die Dunkelziffer dürfte sich auf alle Fälle ganz oben ansiedeln. Denn die wenigsten Mobbing-Opfer wissen genau, was mit ihnen passiert. Und selbst wenn, gerade bei männlichen Betroffenen führt das Motto „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“ zu einer langen Leidensphase. Erst wenn der Karren schon fest im Graben hängt, wird die Notbremse gezogen. Noch weniger Betroffene kämpfen aktiv gegen ihre Peiniger an.
Das deutsche Rechtssystem enthält auch keine eindeutigen Hinweise darauf, dass Mobbing strafbar ist. Allerdings hat jeder Mensch im Grundgesetz verankerte Rechte, die auch als Schutz vor Mobbing angesehen werden können. So zum Beispiel Artikel 1, „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Oder Artikel 3, „Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, …, benachteiligt oder bevorzugt werden“. Auch im Betriebsverfassungsgesetz gibt es eine Reihe von Schutzrechten, die eine Handhabe gegen Schikanen ermöglichen. Zuletzt hat auch der Arbeitgeber eine Fürsorgepflicht. Trotzdem ist es für die Betroffenen nicht besonders einfach, den ersten Schritt zu machen und gegen die Terrorisierung vorzugehen.:
Beim Mobbing steckt anders als beim Mord das Messer nicht sichtbar im Rücken. Wie will ich schon beweisen dass Kollege A ständig respektlose Unwahrheiten über mich verbreitet? … Außerdem habe ich immer noch die Hoffnung, dass sich alles wieder hinbiegt. Ich möchte doch eigentlich gerne hier arbeiten, weil man in diesen Zeiten nicht einfach so einen Job findet. Deswegen schlucke ich den Frust und das bohrende Gefühl der Ungerechtigkeit hinunter und mache tatenlos weiter.
Aus dem Frust werden schleichende Magenbeschwerden und aus dem Gefühl der Ungerechtigkeit wird eine ausgewachsene Schlafstörung. Das sind beides nicht unbedingt beste Voraussetzungen für eine kontinuierlich gute Arbeitsleistung und man wird unkonzentriert, macht immer häufiger Fehler. Irgendwann wird man von einem überforderten Chef gefeuert, ist im harmlosesten Fall um eine chronische Migräne und Versagensängste bereichert und die Ex-Kollegen haben ihr Ziel erreicht.
Der Weg zum Gericht sollte also nicht die Haupt-Strategie darstellen. „Neunzig Prozent aller Mobbing-Fälle sind auf dem juristischen Weg nicht zu packen“, gibt Drat zu bedenken. Der Begriff Mobbing kommt von dem englischen Wort mob und bedeutet so viel wie zusammen-gerotteter Pöbel oder Haufen oder lärmend über jemanden herfallen, anpöbeln, angreifen, attakieren. Sie brauchen noch eine Definition? Der mittlerweile verstorbene schwedische Mobbingforscher Prof. Dr. Heinz Leymann beschrieb es in seinem Buch Der neue Mobbing-bericht folgendermaßen: „Unter Mobbing wird eine konfliktbelastete Kommunikation am Arbeitsplatz unter Kollegen oder zwischen Vorgesetzten und Untergebenen verstanden, bei der die angegriffene Person unterlegen ist und von einer oder einigen Personen systematisch, oft und während längerer Zeit mit dem Ziel und/oder dem Effekt des Ausstoßes aus dem Arbeitsverhältnis direkt oder indirekt angegriffen wird und dies als Diskriminierung empfindet.
Der Hauptunterschied zwischen Mobbing und einem gewöhnlichen Konflikt ist die Verhältnismäßigkeit. … Der psychische Druck wächst mit der Zeit immer weiter heran, in schwerwiegenden Fällen kann das Opfer schwer erkranken und muss behandelt werden. Die Folge für das Opfer? Zum Beispiel die Zerstörung des gesamten sozialen Lebens. Ist die psychische Belastung zu hoch, greift ein Mobbing-Opfer sogar zum vermeintlich letzten Ausweg – Selbstmord. Wissenschaftliche Untersuchungen in Schweden gehen davon aus, dass zehn bis zwanzig Prozent aller Selbstmorde einen Mobbing-Hintergrund haben.In Deutschland schätzt man die Zahl der mobbing-bedingten Selbstmorde auf bis zu sechshundert im Jahr. Wir haben es also nicht mit einer Lappalie zu tun, Mobbing ist kein Kavaliersdelikt. Mobbing ist massiver Psychoterror, der unglaublich zerstörerisch wirkt. …
Übrigens sind nicht Chefs überwiegend die Mobbing-Initiatoren, über fünfzig Prozent der Mobber rekrutieren sich aus den lieben Kollegen.
Was niemand denkt: Mobbing-Opfer sind nicht automatisch die geborenen Verlierer, die in jeden Fettnapf stapfen.
„Ganz oft ist das typische Mobbing-Opfer ein äußerst motivierter und kreativer Mensch, der sogar Leistungsträger einer ganzen Abteilung sein kann“, gibt Diplom-Sozialpädagoge Drat vom VPSM seine Erfahrung wieder. Professor Leymanns 15-jährige intensive Forschung hat ergeben, dass sich Mobbing-Fälle oft auf schwerwiegende Fehler der Firmenleitung zurückführen lassen.
Organisatorische Schwachstellen in Betrieben erzeugen Vorgaben und Stress, die zu Frust und Konflikten führen. Werden diese Probleme nicht von der Unternehmensführung angegangen, ufert ein kleiner Konflikt innerhalb einer Abteilung in Mobbing aus.
In der Wissenschaft wird ein Mobbing-Prozess in vier Phasen unterteilt:
Die erste Phase ist durch einen Konflikt gekennzeichnet, der schlecht oder gar nicht bewältigt wird. Ein Beispiel wäre ein schlechtes Betriebsklima, weil die Angestellten wegen andauernder Umstrukturierung stark verunsichert sind. In der zweiten Phase kommen erstmals typische Mobbing-Handlungen zum gezielten Einsatz.
Nun ist der Konflikt eskaliert und die Front der Mobber und Mobberinnen stabilisiert sich. Der oder die Betroffene gerät in eine unterlegene Position und findet im beruflichen Umfeld keine Hilfe. Das Opfer … versucht immer noch, den Streit mit vernünftigen Argumenten zu lösen oder schützt sich mit aggressiven Abwehrreaktionen. Die gemobbten reagieren in dieser Phase mit typischen psychosomatischen Symptomen wie Schlafstörungen, Magen- und Darmstörungen, leichten depressiven Verstimmungen. Eine stabile Rollenzuweisung kennzeichnet die dritte Phase. Das Opfer ist nun nachhaltig gebrandmarkt worden, zum Beispiel als Querulant, Besserwisser oder Sensibelchen.
Spätestens jetzt machen (häufig!) die Vorgesetzten die Misere komplett. Ihre Versuche, die Situation in den Griff zu bekommen, münden oft in Verstöße gegen geltendes Arbeitsrecht durch ungerechtfertigte Abmahnung der Betroffenen oder Degradierung in der Arbeitsgruppe durch minderwertige Arbeiten. Die Gemobbten erleben die ungerechtfertigten Beschuldigungen ihrer Arbeitsumwelt als massive Kränkung und reagieren darauf mit Hilflosigkeit, oder sie intensivieren ihre aggressiven Abwehrreaktionen. Dadurch verschlimmert sich das ohnehin schon gestörte Verhältnis zwischen allen Beteiligten. Nach Erreichen der vierten Phase hat sich die Situation dramatisch zugespitzt. Die betroffene Person kann den beruflichen und sozialen Anforderungen nicht mehr standhalten. Eine Weiterbeschäftigung am momentanen Arbeitsplatz ist (oft!)auch bei objektiver Betrachtung nicht mehr möglich. In ihrer völligen Verzweiflung und Existenz-Angst kommt es teilweise zu heftigen Gegenattacken und extremem Misstrauen gegenüber jedem Menschen in der Arbeitsumgebung.
Dann erst, als letzter Strohalm, suchen die Betroffenen professionelle Hilfe bei Beratungsstellen, Rechtsanwälten, Fachärzten und Psychologen. Es gibt eine Menge Firmen, deren Personalabteilungen und Vorstände diese Auswirkungen recht wenig interessieren. Immer noch wird Mobbing als eine billige Kündigungsart angesehen. „Wenn du mal eine Mitarbeiterin loswerden willst, musst du sie ständig kritisieren und überfordern. Irgendwann geht sie von selbst, oder sie macht so viele Fehler, dass du sie kündigen kannst“, bekam Stephanie P. (31) an ihrem ersten Arbeitstag als Personalreferentin vom Abteilungschef gesagt. Dabei
ist diese Einstellung aus ökonomischer Sicht die reinste Dummheit, von der moralischen Seite ganz abgesehen. Einem Betrieb mit Mobbing-Vorfällen gehen wertvolle Produktionszeiten verloren. Die Arbeitsplätze bieten ein sehr schlechtes Milieu, die allgemeine Motivation sinkt ungemein. Der Arbeitgeber trägt zum Teil die Kosten im Zusammenhang mit der Erkrankung des Betroffenen. Auch eine Kündigung zieht nicht unerhebliche Kosten für eine Firma nach sich. Und wenn wir ganz weit ausholen wollen: Den Hauptteil der Kosten von arbeitslosen oder kranken Menschen trägt der Steuerzahler. Also die gesamte Gesellschaft ist ein Stück weit betroffen. Vom Mobbing profitiert also niemand. Und wer behauptet, unter einem gewissen Negativdruck könne bessere Leistung erzielt werden, hat wohl noch nie in einer freundschaftlichen entspannten Atmosphäre gearbeitet.
Viel zu selten gelingt es, Betroffene wieder ins Arbeitsumfeld einzugliedern und eine Normalität herzustellen. Ein solcher Erfolg ist aber das erklärte Ziel der vielen Beratungsstellen und Selbsthilfegruppen.
„Eine gerichtliche Auseinandersetzung kann nicht der Königsweg sein“, mahnt Drat, „Es bedeutet in fast jedem Fall den Verlust des Arbeitsplatzes, ob mit oder ohne Abfindung. Viel wichtiger ist die Wiederherstellung der innerbetrieblichen Kommunikation. Die Aufarbeitung des ehemaligen Konflikts und dessen Folgen“. Deswegen wünscht er sich regelmäßig, dass die Betroffenen früher zu ihm kommen, nicht zuletzt auch ihrer Gesundheit zuliebe. Eigentlich wäre die Welt ja auch viel schöner, wenn an Arbeitsplätzen der erste Paragraph der Straßenverkehrsordnung eingerahmt hinge und zum Arbeitsmotto würde:
„Jeder Verkehrsteilnehmer hat sich so zu verhalten, dass kein anderer geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird“.